Sonntag, 24. November 2013
Für Miriam
si.kei, 15:19h
Zum heutigen Ewigkeitssonntag fiel mir eine Geschichte ein, die ich vor einigen Jahren einmal zu Papier gebracht habe - oder vielmehr zu Festplatte.
Obwohl er sie schon einige Jahre nicht mehr gesehen hatte, traf ihn die Nachricht wie ein Blitzschlag.
Er schluckte, konnte es nicht fassen. Ihm blieb die Stimme weg.
Sie war so attraktiv gewesen. Mit blondem langem Haar, groß, schlank, wirklich unglaublich hübsch. Und nicht nur das, obendrein hochintelligent, hatte gerade ihren Doktor der Medizin gemacht.
Ihm kamen die Tränen. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert. Aber es wurde ihm wohl erst jetzt so richtig bewusst, dass er sich damals durchaus ihn sie hätte verlieben können, wenn er es denn zugelassen hätte. Aber bei Mädchen ihres Kalibers ließ er es nicht zu, weil er sowieso keine Chancen gehabt hätte. Obwohl sie sich tatsächlich sogar mit ihm abgegeben hatte. Das machte sie nur umso sympathischer. Hochnäsig war sie wirklich nicht, obwohl sie eigentlich allen Grund dazu gehabt hätte. Nein, sie war einfach rundum eine tolle Frau gewesen.
Und jetzt das. Kaum dreißig Jahre alt!
Die Frage kam unweigerlich: Warum? Warum, verdammt noch mal gerade sie? Es gab so unzählig viele Menschen auf dieser Welt, auf die diese Welt eher hätte verzichten können, als auf sie. Er biss sich auf die Lippen – durfte man so etwas denken?
Ob man durfte oder nicht, diese Gedanken kamen. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Er hatte einfach schon so viele – Verzeihung – Idioten kennen gelernt, die nichts aus ihrem Leben machen konnten oder wollten, warum war es gerade sie, die gehen musste? Sie, der die Welt zu Füßen lag!
Er weinte wieder. Es war unfassbar. Er konnte es nicht glauben.
Eine Freundin hatte ihn angerufen, es ihm gesagt.
Wie muss das für die Eltern sein! Und für den Bruder! Das ging über seine Vorstellungskraft. Vermutlich kann man in der Situation tagelang nichts anderes als heulen. Die Gefühle des Ehemannes konnte er sich vermutlich besser ausmalen, glaubte er.
Sie soll mit dem zweiten Kind schwanger gewesen sein. Mein Gott! Wenn er sich vorstellte, dass seiner Frau... es musste furchtbar sein. Dieser Mann tat ihm so unbeschreiblich Leid. Gerade noch ein glücklicher Mensch wie er, vermutlich – er kannte ihn ja gar nicht, aber es musste so sein, mit einer Frau wie Miriam und mit einer kleinen Familie – sie hatten schon ein Kind! Und plötzlich zerplatzt dieses Glück wie eine Seifenblase! Und die verdammte Welt dreht sich einfach weiter! Man möchte schreien, dass die ganze Erde erzittert, aber die Sonne strahlt am nächsten Tag wieder vom Himmel, als sei nichts gewesen. Wie ungeheuer zerbrechlich das Glück doch ist.
Er dachte an sein eigenes Glück. Nein, mit der Angst bekam er es nicht, dass es ihm abhanden kommen könnte. Das wäre wirklich dumm gewesen, sich damit schon mal prophylaktisch das Leben zu versauen. Aber er dachte daran, dass sein Glück tatsächlich nicht selbstverständlich war, und dass es bestimmt nicht hundert Jahre halten würde. Aber vielleicht noch ein paar Dutzend? Er wünschte es sich so sehr.
In den letzten Jahren hatte er schon oft an Hiob denken müssen. Den Hiob aus dem Alten Testament. Sich selber verglich er öfter mit Hiob. Auch er hatte alles, was er sich erträumt hatte, er hatte seine Traumfrau gefunden und geheiratet, hatte den Mut gehabt, seinen Traumberuf zu ergreifen, auch wenn viele seiner Bekannten gemeint hatten, das sei ein Irrtum. Durch glückliche Umstände waren seine Frau und er sogar bereits im Besitz ihrer Traumwohnung. Und nun hatten sie seit einem Jahr zwei traumhafte Töchter! Er war ein gesegneter Mensch! Er wusste wirklich nicht, was er sich noch wünschen sollte! Und er war Gott dankbar für all das, so oft er sich nur darüber bewusst war.
Denn bei Hiob ging die Geschichte weiter. Der verlor alles. Nicht nur einen Teil seines Glücks, nein, alles! In kürzester Zeit.
Wie gesagt, er hatte keine Angst deswegen, aber er sah der Möglichkeit ins Auge. Und er war sich sicher, damit im Zweifelsfall ein klein wenig vorbereitet zu sein, wenn es denn tatsächlich passieren sollte. Und ganz bestimmt lebte er intensiver, genoss sein momentanes Glück umso mehr, je mehr er sich über dessen Endlichkeit bewusst war.
Er weinte immer noch. Er war dermaßen ergriffen. Aber in das Mitgefühl mit dem unbekannten Ehemann und seiner Familie hatte sich eben diese tiefe Dankbarkeit gemischt, dass es noch nicht ihn erwischt hatte. Da hätte man genauso fragen können, warum? Warum darf seine Frau leben? Warum seine Kinder? Warum er? Warum sind sie alle gesund?
Und er beschloss wieder einmal, das Leben zu genießen, solange es es so gut mit ihm meinte. Und vielleicht noch ein bisschen darüber hinaus.
Obwohl er sie schon einige Jahre nicht mehr gesehen hatte, traf ihn die Nachricht wie ein Blitzschlag.
Er schluckte, konnte es nicht fassen. Ihm blieb die Stimme weg.
Sie war so attraktiv gewesen. Mit blondem langem Haar, groß, schlank, wirklich unglaublich hübsch. Und nicht nur das, obendrein hochintelligent, hatte gerade ihren Doktor der Medizin gemacht.
Ihm kamen die Tränen. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert. Aber es wurde ihm wohl erst jetzt so richtig bewusst, dass er sich damals durchaus ihn sie hätte verlieben können, wenn er es denn zugelassen hätte. Aber bei Mädchen ihres Kalibers ließ er es nicht zu, weil er sowieso keine Chancen gehabt hätte. Obwohl sie sich tatsächlich sogar mit ihm abgegeben hatte. Das machte sie nur umso sympathischer. Hochnäsig war sie wirklich nicht, obwohl sie eigentlich allen Grund dazu gehabt hätte. Nein, sie war einfach rundum eine tolle Frau gewesen.
Und jetzt das. Kaum dreißig Jahre alt!
Die Frage kam unweigerlich: Warum? Warum, verdammt noch mal gerade sie? Es gab so unzählig viele Menschen auf dieser Welt, auf die diese Welt eher hätte verzichten können, als auf sie. Er biss sich auf die Lippen – durfte man so etwas denken?
Ob man durfte oder nicht, diese Gedanken kamen. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Er hatte einfach schon so viele – Verzeihung – Idioten kennen gelernt, die nichts aus ihrem Leben machen konnten oder wollten, warum war es gerade sie, die gehen musste? Sie, der die Welt zu Füßen lag!
Er weinte wieder. Es war unfassbar. Er konnte es nicht glauben.
Eine Freundin hatte ihn angerufen, es ihm gesagt.
Wie muss das für die Eltern sein! Und für den Bruder! Das ging über seine Vorstellungskraft. Vermutlich kann man in der Situation tagelang nichts anderes als heulen. Die Gefühle des Ehemannes konnte er sich vermutlich besser ausmalen, glaubte er.
Sie soll mit dem zweiten Kind schwanger gewesen sein. Mein Gott! Wenn er sich vorstellte, dass seiner Frau... es musste furchtbar sein. Dieser Mann tat ihm so unbeschreiblich Leid. Gerade noch ein glücklicher Mensch wie er, vermutlich – er kannte ihn ja gar nicht, aber es musste so sein, mit einer Frau wie Miriam und mit einer kleinen Familie – sie hatten schon ein Kind! Und plötzlich zerplatzt dieses Glück wie eine Seifenblase! Und die verdammte Welt dreht sich einfach weiter! Man möchte schreien, dass die ganze Erde erzittert, aber die Sonne strahlt am nächsten Tag wieder vom Himmel, als sei nichts gewesen. Wie ungeheuer zerbrechlich das Glück doch ist.
Er dachte an sein eigenes Glück. Nein, mit der Angst bekam er es nicht, dass es ihm abhanden kommen könnte. Das wäre wirklich dumm gewesen, sich damit schon mal prophylaktisch das Leben zu versauen. Aber er dachte daran, dass sein Glück tatsächlich nicht selbstverständlich war, und dass es bestimmt nicht hundert Jahre halten würde. Aber vielleicht noch ein paar Dutzend? Er wünschte es sich so sehr.
In den letzten Jahren hatte er schon oft an Hiob denken müssen. Den Hiob aus dem Alten Testament. Sich selber verglich er öfter mit Hiob. Auch er hatte alles, was er sich erträumt hatte, er hatte seine Traumfrau gefunden und geheiratet, hatte den Mut gehabt, seinen Traumberuf zu ergreifen, auch wenn viele seiner Bekannten gemeint hatten, das sei ein Irrtum. Durch glückliche Umstände waren seine Frau und er sogar bereits im Besitz ihrer Traumwohnung. Und nun hatten sie seit einem Jahr zwei traumhafte Töchter! Er war ein gesegneter Mensch! Er wusste wirklich nicht, was er sich noch wünschen sollte! Und er war Gott dankbar für all das, so oft er sich nur darüber bewusst war.
Denn bei Hiob ging die Geschichte weiter. Der verlor alles. Nicht nur einen Teil seines Glücks, nein, alles! In kürzester Zeit.
Wie gesagt, er hatte keine Angst deswegen, aber er sah der Möglichkeit ins Auge. Und er war sich sicher, damit im Zweifelsfall ein klein wenig vorbereitet zu sein, wenn es denn tatsächlich passieren sollte. Und ganz bestimmt lebte er intensiver, genoss sein momentanes Glück umso mehr, je mehr er sich über dessen Endlichkeit bewusst war.
Er weinte immer noch. Er war dermaßen ergriffen. Aber in das Mitgefühl mit dem unbekannten Ehemann und seiner Familie hatte sich eben diese tiefe Dankbarkeit gemischt, dass es noch nicht ihn erwischt hatte. Da hätte man genauso fragen können, warum? Warum darf seine Frau leben? Warum seine Kinder? Warum er? Warum sind sie alle gesund?
Und er beschloss wieder einmal, das Leben zu genießen, solange es es so gut mit ihm meinte. Und vielleicht noch ein bisschen darüber hinaus.
... link (0 Kommentare) ... comment
Montag, 18. November 2013
Ein ganz normaler Abend im Leben eines Busfahrers - fernab der Heimat
si.kei, 17:56h
Diese Geschichte ist schon ein paar Jahre alt. Genauer gesagt muss sie von vor 2007 sein, weil ich Ende 2006 den Arbeitgeber gewechselt habe und diese Story noch aus der Zeit davor ist. Habe sie aus den Tiefen der Sicherungskopien auf meiner externen Festplatte geholt.
Aber so oder so ähnlich ist das immer wieder in meinem Leben.
:-)
Sie lachten. Alle außer ihm. Nein, nicht alle. Der rechts von ihm saß, lachte auch nicht. Na, immerhin. Einer hatte einen Witz gemacht, auf dänisch. Überhaupt unterhielten sie sich blendend. Allerdings redeten tatsächlich nicht alle. Zwei, drei der Herren waren etwas zurückhaltender. Das half, dass er sich nicht völlig fehl am Platze fühlte.
Das war mal wieder einer dieser Abende, dachte er bei sich, wo man sich so dermaßen deplatziert vorkommen konnte, als Busfahrer. Seine Fahrgäste, lauter dänische Geschäftsmänner – ja, nicht mal eine einzige Frau war dabei! – saßen um einen großen rechteckigen Tisch herum. Er war zu spät gekommen. Ob er die falsche Uhrzeit im Kopf gehabt hatte oder ob sie einfach vergessen hatten, ihm zu sagen, dass sie das Abendessen vorgezogen hatten, wusste er nicht. Jedenfalls saßen sie schon alle da und aßen ihre Vorspeisen. Das allein könnte einem schon peinlich sein. Nicht ihm. Diesbezüglich hatte er sich schon ein dickes Fell zugelegt. Er hatte ja nicht einmal gewusst, ob er mit der Gruppe zusammen essen durfte oder sollte, oder ob er vielleicht auf eigene Faust irgendein billigeres Lokal aufsuchen sollte. Aber, so dachte er sich, wenn der Leiter der Gruppe es nicht fertig gebracht hatte, ihm im Voraus zu sagen, was Sache ist, so würde er ihn halt ganz direkt fragen.
„Guten Appetit“, wünschte er leise, als er an den Leiter herangetreten war. „Entschuldigen Sie, ich wusste nicht, dass Sie schon, ich dachte um acht. Ich werde mich separat setzen, denke ich.“
„Nein, aber natürlich, Entschuldigung, Sie habe ich vergessen, bitte setzen Sie sich doch zu uns!“ Die Antwort klang echt, und so wollte er auch nicht nachtragend sein, hatte sich gesetzt und die Karte studiert.
Nun starrte er abwechselnd auf seine Hände und auf die Bilder an der gegenüberliegenden Wand. Er konnte hier am Tisch auch nicht anfangen, mit seinem Handy SMS zu schreiben oder Sudoku zu spielen, wie er es sonst tat, wenn er allein in einem Lokal saß und aufs Essen wartete. Das wäre hier unhöflich gewesen. Aber war es nicht auch unhöflich, wenn in einer Sprache gesprochen wurde, die nicht jeder am Tisch verstand?
Was soll’s, er war es ja gewöhnt. Vom Aufenthaltsraum seiner Firma. Da war es halt Kroatisch statt Dänisch, aber das machte keinen großen Unterschied.
Außerdem stand es einem Menschen im Allgemeinen und einem Busfahrer im Besonderen nicht schlecht an, sich in Bescheidenheit zu üben und sich nicht so wichtig zu nehmen.
So begnügte er sich damit, seine Fahrgäste unauffällig zu beobachten. Und in Gedanken schrieb er schon mal auf, was er sah und dachte, denn, so dachte er, ob sich seine Freunde oder auch die Kollegen im Büro schon jemals überlegt hatten, wie man als Busfahrer manchmal seine Abende verbringen musste? Wahrscheinlich interessierte es sie zwar nicht, aber das war ihm egal. Er hatte gerade nichts besseres zu tun.
Die Vorspeise ließ er aus. Erstens waren die anderen gerade damit fertig, zweitens wollte er wie immer, wenn à la carte gegessen wurde, nicht so viel essen – man muss schließlich nicht alles ausnutzen, was geht, sonst braucht man sich nicht zu wundern, wenn man auch immer weniger geboten bekommt – und drittens hatte ihn schon eine Nachspeise aus der Karte angelacht.
Sie sahen wirklich irgendwie dänisch aus. Im positivsten Sinne. Irgendwie sympathisch. Anders als Südländer. Nicht, dass die nicht sympathisch aussehen würden, aber – er wusste selber nicht genau, was es war. Vielleicht sahen sie bescheiden aus. Keiner trug seine Nase zu hoch. Sich nicht so wichtig nehmen, vielleicht war es das. Dabei haben solche Menschen ein besseres, ein gesünderes Selbstbewusstsein als die (Vor-) Lauten und als die, die meinen, ihre Ehre verteidigen zu müssen. Aber das führt jetzt zu weit, dachte er, außerdem sind solche Pauschalisierungen oft nicht wirklich korrekt. Womöglich lag es auch mehr an ihrer gesellschaftlichen Position, als an ihrer Nationalität. Wahrscheinlich beides.
Er musste an Vibe denken. Eine der wenigen jungen Frauen, die wirklich was von ihm hielten. Ohne dabei auch nur im Entferntesten seiner lieben Frau und Mutter seiner wunderbaren Kinder gefährlich zu werden.
Vibe war auch Dänin. Er hatte sie auf einer Fahrt kennen gelernt, vor ein paar Jahren, mit dänischen Architekturstudenten. Und manchmal – viel zu selten, schrieben sie sich noch Emails. Sie hatte auch dieses sympathische Bescheidene.
Er schwitzte. Sein Schweinesteak war gut, noch besser war die Pfeffersoße dazu, aber so scharf, dass es ihm das Wasser aus den Poren trieb. Er musste knallrot sein, das spürte er. Nur gut, dass er hier kaum beachtet wurde.
Er konnte sein Steak tatsächlich genießen. Trotz der widrigen Umstände. Die waren halt der Preis, dachte er sich, für dieses hervorragende Essen. Dafür musste er schließlich nichts dafür zahlen.
Einer hatte ihn kurz angesprochen, der links von ihm.
„Jetzt kriegen Sie eine unfreiwillige Lektion in Dänisch“, hatte der gesagt. Aber eine lange Konversation wurde daraus natürlich auch nicht. Obwohl, wenn er gewollt hätte, hätte er jetzt von seinen Urlauben in Dänemark erzählen können und dass er damals sogar ein paar Wörter gelernt hatte. Und dass er Legoland so toll gefunden hatte, was es damals ja wirklich nur in Dänemark gab. Aber er hatte sich bereits so mit seiner Rolle als stiller „Danebensitzer“ abgefunden, dass er schon gar keine Lust mehr auf Konversation hatte. Aber er freute sich über die nette Geste seines linken Nachbarn.
Es hätte ja auch alles noch schlimmer sein können. Sie hätten ihn ja auch alle anschauen können, etwas auf dänisch sagen und dann alle laut lachen. Nein, nicht wirklich. Nicht Dänen. Die hatten noch die gute Erziehung, die er bei den Deutschen inzwischen arg vermisste. Sie wussten sogar, wie man nach dem Essen das Besteck auf den Teller legt! Er traute seinen Augen kaum. Messer und Gabel lagen parallel, die Schneide des Messers zeigte zum eigenen Körper, nicht zum Gegenüber, und war durch die Gabel geschützt. Bei allen! Wann hatte er zuletzt eine Gruppe gehabt, die das so konsequent gemacht hatte? Parallel schafften ja noch einige, aber das mit der Schneide wusste kaum mehr einer.
Er musste an die rumänischen Geschäftsleute denken, mit denen er mal Mittag gegessen hatte. Wie Kraut und Rüben lag da das Besteck herum. Wohlgemerkt Geschäftsleute – nicht Straßenkinder!
Aber er war eigentlich viel zu gut drauf, als dass er sich jetzt in solch ärgerliche Gedanken hineinsteigern würde. Außerdem waren die hier ja scheinbar voll in Ordnung. Und das Essen war phantastisch. Vielleicht zeigte auch das Bier, das er trank, langsam seine Wirkung, jedenfalls fing er an, sich richtig wohl zu fühlen.
Sie nahmen tatsächlich ein Dessert. Nicht alle, aber einige. Und die anderen einen Kaffee und zwei Asbach und noch einen Kaffee. Da konnte er sich auch das Schoko-Minz-Parfait auf Kirsch-Ragout genehmigen, dass ihn schon angelacht hatte.
Der krönende Abschluss eines Abends, den man zwar insgesamt besser hätte verbringen können, aber wohl kaum mit besserem Essen.
Aber so oder so ähnlich ist das immer wieder in meinem Leben.
:-)
Sie lachten. Alle außer ihm. Nein, nicht alle. Der rechts von ihm saß, lachte auch nicht. Na, immerhin. Einer hatte einen Witz gemacht, auf dänisch. Überhaupt unterhielten sie sich blendend. Allerdings redeten tatsächlich nicht alle. Zwei, drei der Herren waren etwas zurückhaltender. Das half, dass er sich nicht völlig fehl am Platze fühlte.
Das war mal wieder einer dieser Abende, dachte er bei sich, wo man sich so dermaßen deplatziert vorkommen konnte, als Busfahrer. Seine Fahrgäste, lauter dänische Geschäftsmänner – ja, nicht mal eine einzige Frau war dabei! – saßen um einen großen rechteckigen Tisch herum. Er war zu spät gekommen. Ob er die falsche Uhrzeit im Kopf gehabt hatte oder ob sie einfach vergessen hatten, ihm zu sagen, dass sie das Abendessen vorgezogen hatten, wusste er nicht. Jedenfalls saßen sie schon alle da und aßen ihre Vorspeisen. Das allein könnte einem schon peinlich sein. Nicht ihm. Diesbezüglich hatte er sich schon ein dickes Fell zugelegt. Er hatte ja nicht einmal gewusst, ob er mit der Gruppe zusammen essen durfte oder sollte, oder ob er vielleicht auf eigene Faust irgendein billigeres Lokal aufsuchen sollte. Aber, so dachte er sich, wenn der Leiter der Gruppe es nicht fertig gebracht hatte, ihm im Voraus zu sagen, was Sache ist, so würde er ihn halt ganz direkt fragen.
„Guten Appetit“, wünschte er leise, als er an den Leiter herangetreten war. „Entschuldigen Sie, ich wusste nicht, dass Sie schon, ich dachte um acht. Ich werde mich separat setzen, denke ich.“
„Nein, aber natürlich, Entschuldigung, Sie habe ich vergessen, bitte setzen Sie sich doch zu uns!“ Die Antwort klang echt, und so wollte er auch nicht nachtragend sein, hatte sich gesetzt und die Karte studiert.
Nun starrte er abwechselnd auf seine Hände und auf die Bilder an der gegenüberliegenden Wand. Er konnte hier am Tisch auch nicht anfangen, mit seinem Handy SMS zu schreiben oder Sudoku zu spielen, wie er es sonst tat, wenn er allein in einem Lokal saß und aufs Essen wartete. Das wäre hier unhöflich gewesen. Aber war es nicht auch unhöflich, wenn in einer Sprache gesprochen wurde, die nicht jeder am Tisch verstand?
Was soll’s, er war es ja gewöhnt. Vom Aufenthaltsraum seiner Firma. Da war es halt Kroatisch statt Dänisch, aber das machte keinen großen Unterschied.
Außerdem stand es einem Menschen im Allgemeinen und einem Busfahrer im Besonderen nicht schlecht an, sich in Bescheidenheit zu üben und sich nicht so wichtig zu nehmen.
So begnügte er sich damit, seine Fahrgäste unauffällig zu beobachten. Und in Gedanken schrieb er schon mal auf, was er sah und dachte, denn, so dachte er, ob sich seine Freunde oder auch die Kollegen im Büro schon jemals überlegt hatten, wie man als Busfahrer manchmal seine Abende verbringen musste? Wahrscheinlich interessierte es sie zwar nicht, aber das war ihm egal. Er hatte gerade nichts besseres zu tun.
Die Vorspeise ließ er aus. Erstens waren die anderen gerade damit fertig, zweitens wollte er wie immer, wenn à la carte gegessen wurde, nicht so viel essen – man muss schließlich nicht alles ausnutzen, was geht, sonst braucht man sich nicht zu wundern, wenn man auch immer weniger geboten bekommt – und drittens hatte ihn schon eine Nachspeise aus der Karte angelacht.
Sie sahen wirklich irgendwie dänisch aus. Im positivsten Sinne. Irgendwie sympathisch. Anders als Südländer. Nicht, dass die nicht sympathisch aussehen würden, aber – er wusste selber nicht genau, was es war. Vielleicht sahen sie bescheiden aus. Keiner trug seine Nase zu hoch. Sich nicht so wichtig nehmen, vielleicht war es das. Dabei haben solche Menschen ein besseres, ein gesünderes Selbstbewusstsein als die (Vor-) Lauten und als die, die meinen, ihre Ehre verteidigen zu müssen. Aber das führt jetzt zu weit, dachte er, außerdem sind solche Pauschalisierungen oft nicht wirklich korrekt. Womöglich lag es auch mehr an ihrer gesellschaftlichen Position, als an ihrer Nationalität. Wahrscheinlich beides.
Er musste an Vibe denken. Eine der wenigen jungen Frauen, die wirklich was von ihm hielten. Ohne dabei auch nur im Entferntesten seiner lieben Frau und Mutter seiner wunderbaren Kinder gefährlich zu werden.
Vibe war auch Dänin. Er hatte sie auf einer Fahrt kennen gelernt, vor ein paar Jahren, mit dänischen Architekturstudenten. Und manchmal – viel zu selten, schrieben sie sich noch Emails. Sie hatte auch dieses sympathische Bescheidene.
Er schwitzte. Sein Schweinesteak war gut, noch besser war die Pfeffersoße dazu, aber so scharf, dass es ihm das Wasser aus den Poren trieb. Er musste knallrot sein, das spürte er. Nur gut, dass er hier kaum beachtet wurde.
Er konnte sein Steak tatsächlich genießen. Trotz der widrigen Umstände. Die waren halt der Preis, dachte er sich, für dieses hervorragende Essen. Dafür musste er schließlich nichts dafür zahlen.
Einer hatte ihn kurz angesprochen, der links von ihm.
„Jetzt kriegen Sie eine unfreiwillige Lektion in Dänisch“, hatte der gesagt. Aber eine lange Konversation wurde daraus natürlich auch nicht. Obwohl, wenn er gewollt hätte, hätte er jetzt von seinen Urlauben in Dänemark erzählen können und dass er damals sogar ein paar Wörter gelernt hatte. Und dass er Legoland so toll gefunden hatte, was es damals ja wirklich nur in Dänemark gab. Aber er hatte sich bereits so mit seiner Rolle als stiller „Danebensitzer“ abgefunden, dass er schon gar keine Lust mehr auf Konversation hatte. Aber er freute sich über die nette Geste seines linken Nachbarn.
Es hätte ja auch alles noch schlimmer sein können. Sie hätten ihn ja auch alle anschauen können, etwas auf dänisch sagen und dann alle laut lachen. Nein, nicht wirklich. Nicht Dänen. Die hatten noch die gute Erziehung, die er bei den Deutschen inzwischen arg vermisste. Sie wussten sogar, wie man nach dem Essen das Besteck auf den Teller legt! Er traute seinen Augen kaum. Messer und Gabel lagen parallel, die Schneide des Messers zeigte zum eigenen Körper, nicht zum Gegenüber, und war durch die Gabel geschützt. Bei allen! Wann hatte er zuletzt eine Gruppe gehabt, die das so konsequent gemacht hatte? Parallel schafften ja noch einige, aber das mit der Schneide wusste kaum mehr einer.
Er musste an die rumänischen Geschäftsleute denken, mit denen er mal Mittag gegessen hatte. Wie Kraut und Rüben lag da das Besteck herum. Wohlgemerkt Geschäftsleute – nicht Straßenkinder!
Aber er war eigentlich viel zu gut drauf, als dass er sich jetzt in solch ärgerliche Gedanken hineinsteigern würde. Außerdem waren die hier ja scheinbar voll in Ordnung. Und das Essen war phantastisch. Vielleicht zeigte auch das Bier, das er trank, langsam seine Wirkung, jedenfalls fing er an, sich richtig wohl zu fühlen.
Sie nahmen tatsächlich ein Dessert. Nicht alle, aber einige. Und die anderen einen Kaffee und zwei Asbach und noch einen Kaffee. Da konnte er sich auch das Schoko-Minz-Parfait auf Kirsch-Ragout genehmigen, dass ihn schon angelacht hatte.
Der krönende Abschluss eines Abends, den man zwar insgesamt besser hätte verbringen können, aber wohl kaum mit besserem Essen.
... link (0 Kommentare) ... comment
Montag, 20. Mai 2013
Mein Kirchentag 2013 in Hamburg
si.kei, 22:50h
Kirchentag 2013 in Hamburg
Mittwoch, 1. Mai, Dreiviertel acht. Am Bahnhof finden sich etwa 20 Jugendliche, Pfarrerin Murner und ich ein.
Wir freuen uns auf den 34. Evangelischen Kirchentag in Hamburg. Es ist mein 11. Im Sommer ’89 in Berlin (West) war ich als Sechzehnjähriger zum ersten Mal dabei gewesen. Nur 2005, ’07 und ’09 habe ich ausgelassen, zum einen, weil sich bei mir eine gewisse Sättigung eingestellt hatte, zum anderen, weil mein Chef nicht begeistert ist, wenn wir Busfahrer im Frühsommer Urlaub nehmen.
Doch als ich 2010 beim Ökumenischen Kirchentag in München zwei einzelne Tage in die Kirchentags-Welt eintauchte, habe ich wieder Blut geleckt: Vor zwei Jahren war ich in Dresden und nun selbstverständlich in Hamburg. Da muss mein Chef halt jetzt wieder alle zwei Jahre durch…
Leider hatte ich (mal wieder) zu spät damit angefangen, das umfangreiche Programm mit den 2000 Veranstaltungen durchzusehen. Das kann man wie seit eh und je in Papierform, aber seit Neuestem auch online und per Smartphone-App. Bei den beiden letzten Versionen kann man gezielt nach Schlagwörtern wie ‚Gospel’ oder nach Personen wie ‚Gauck’, ‚Käßmann’ oder ‚von Hirschhausen’ suchen.
Ich habe mir im Laufe der Jahre jedoch angewöhnt, das komplette Programm durchzusehen, alles zu markieren, was mich irgendwie interessiert (selbst wenn davon vieles gleichzeitig stattfindet) und dann Prioritäten zu vergeben, um die Veranstaltungen, die mir am wichtigsten sind, möglichst nicht zu verpassen. So bleibe ich flexibel, wenn eine favorisierte Veranstaltung überfüllt ist und ich kann schnell feststellen, ob ich etwas auf meiner persönlichen Liste habe, das vielleicht auch andere aus der Pfaffenhofener Gruppe interessiert.
Flexibel bleiben ist überhaupt wichtig auf Kirchentagen, nicht frustriert sein, wenn man vieles nicht schafft und auch Zeiten wahrnehmen, um sich auszutauschen und manches einfach setzen zu lassen. Das ‚Jetzt’ genießen an Alster oder Elbe, auf der Wiese vor dem Michel, dem Hamburger Wahrzeichen, oder auf den Promenaden der nagelneuen Hafen-City rund um die ewige Baustelle ‚Elb-Philharmonie’.
Die Zugfahrt verlief gut und schnell. Ich hatte das unverdiente Privileg, zwei Plätze für mich zu haben, da die Jugendlichen lieber auf- und übereinander saßen, als zu weit ab vom Schuss zu sein.
Unsere Unterkunft hätte kaum besser sein können. Noch nie war ich bei einem Kirchentag so zentral einquartiert und auch die Anzahl der mit uns in der kleinen Schule Untergebrachten war übersichtlich genug, dass man morgens an den wenigen Duschen im separaten Sport-Gebäude nicht Schlange stehen musste. Aber der Clou war: Die beiden Klassenzimmer, in denen wir brav nach Geschlecht getrennt nächtigen sollten, hatten ein kleines, durch eine Fensterfront vom Hauptraum getrenntes Separee. Und nachdem sich die Jungs bereits im Raum verteilt hatten, erhob niemand Einspruch, als ich als deutlich Ältester um diesen Nebenraum bat. Sogar ein kleines Waschbecken befand sich dort, das aber selbstverständlich von allen benutzt wurde. So hatte ich gleichzeitig ein gewisses Gemeinschaftsgefühl, das einem entgeht, wenn man einzeln bei Privat-Leuten übernachtet, und dennoch ein Einzelzimmer. Ich war begeistert!
Die Eröffnungsgottesdienste fanden an vier verschiedenen Orten statt. Während die anderen Pfaffenhofener den örtlich nächsten an der Reeperbahn wählten, verabredete ich mich am Fischmarkt mit meinem Cousin Lars aus Kiel, den ich naturgemäß selten, manchmal über Jahre hinweg nicht sehe.
Predigttext war die Manna-Geschichte aus 2. Mose 16, der auch das diesjährige Kirchentags-Motto entnommen war: „Soviel du brauchst“.
War es eigentlich Zufall, dass ich für die Kollekte dieses Gottesdienstes ausgerechnet ein 2-Euro-Stück aus dem Geldbeutel fischte, auf dem der Hamburger Michel abgebildet war?!?
Mit Lars, seiner Frau und ihren Hamburger Freunden, bei denen sie während des Kirchentages Unterschlupf gefunden haben, verbrachte ich dann auch den Rest des Abends, zunächst abseits des Kirchentagsgeschehens in einer kleinen Bar an der Elbe, später bei Johnny Logan am Rathausmarkt und beim Abendsegen an der Alster mit Lichtermeer aus unzähligen Kerzen. Schließlich wollten wir uns bei einem ‚Absacker’ noch ein wenig unterhalten. Dabei hatten wir so tiefgründige Gespräche, die man bei herkömmlichen Familientreffen selten hat, sodass es für mich richtig knapp wurde, unsere Schule zu erreichen, bevor sie um ein Uhr abgeschlossen wurde. Natürlich war der Akku meines Smartphones leer und natürlich hatte ich den konventionellen Stadtplan aus Fleisch und Blut, ich meine aus Papier und Farbe nicht dabei. Ich wurde zunehmend nervös und beschloss schließlich um zwanzig vor eins, ein Taxi zu nehmen. Die Kosten dafür hielten sich aber Dank der bereits erwähnten zentralen Lage unserer Schule in Grenzen.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, am ‚Abend der Begegnung’, wie der erste Abend eines jeden Kirchentages heißt, nicht sehr ‚alt zu werden’, aber nun war ich doch der Letzte, der sich auf seine Luftmatratze legte.
Die meisten Veranstaltungen eines Kirchentages finden an den Tagen 2 bis 4 statt. Konzerte in den unterschiedlichsten Musikrichtungen, zum Mitsingen oder nur zum Zuhören, politische und ethische Diskussionen, viele Filme (natürlich eher solche, die auf ARTE laufen würden, als auf RTL2), theologische Vorträge, vierstündige Pilger-Wanderungen, Kabarett-Programme (nicht nur mit so Namhaften wie Eckart von Hirschhausen), spirituelle Workshops, thematische Stadtführungen, Gottesdienste für Motorradfahrer, für Jugendliche, für Eltern, die ein Kind verloren haben, für Frischverliebte – da ist für jeden etwas dabei! Und im Laufe der Jahre und mit zunehmendem Alter ändern sich die Interessen natürlich, so habe ich 1989 ganz andere Veranstaltungen besucht als 2013. Aber immer noch finde ich im Programm viel mehr als ich während der paar Tage wahrnehmen kann.
Eine Bibelarbeit, in der jeweils um halb zehn mehr oder weniger bekannte Personen den Tages-Bibelvers auslegen, schenke ich mir heute noch. Der Rock-Gottesdienst, den sich einige Jugendliche ausgesucht haben, steht zwar auch auf meiner Favoriten-Liste, aber ich möchte lieber um elf zu einer Diskussion auf dem Messegelände über den Zustand unserer Gesellschaft, bei der unser Bundespräsident Gauck auf dem Podium sitzen wird. Und beides haut nicht hin.
Bis dahin nutze ich die Zeit, durch die Kirchentagsbuchhandlung zu schlendern. Hier muss ich mich immer sehr bremsen. Zu viele schöne und eben auch sinnvolle Dinge findet man hier. Klar, Bücher natürlich, zum Nachdenken über sich, über Gott und über die Welt, aber auch Postkarten mit mehr oder weniger frommen Sprüchen, Schlüsselanhänger in Fisch- oder Kreuzform, Frühstücksbrettchen mit Segensspruch oder ohne, Aufkleber, biblische Rätsel, und, und, und. Ein paar Mitbringsel für meine Kinder sind schnell gefunden und ich mache mich auf den Weg zu Halle B5. Dabei laufe ich einem Bekannten über den Weg. Martin ist Forstwissenschaftler in Montana, USA, saß vor zwei Jahren mit anderen amerikanischen Forstleuten in einem von mir gelenkten Bus, um sich die vorbildlichen bayerischen Wälder anzusehen, stammt aus Niedersachsen, und ‚nebenbei’ ist er Mitglied des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentages… Die Welt ist klein.
Halle B5 ist überfüllt. Natürlich, dort hält eine gewisse Frau Käßmann gerade eine der heutigen Bibelarbeiten. Vor dem Eingang bereits eine beachtliche Zahl Menschen, die wohl der aussichtslosen Hoffnung sind, nach der Bibelarbeit würden genügend Zuhörer die Halle verlassen, damit sie zu Gauck hineinkommen. Es verbreitet sich die Kunde, die Gauck-Veranstaltung würde nach außen übertragen. Ich suche mir ein Plätzchen auf dem Boden vor den Lautsprechern. Schön, dass so gutes Wetter ist.
Ich habe richtig geschätzt: Von den etwa 5000 Menschen verlassen die Halle ungefähr 20 nach der Bibelarbeit und ebenso viele werden hinein gelassen.
Leider ist die Übertragungsqualität über die Lautsprecher katastrophal, sodass ich nach zehn Minuten beschließe, dass ein Bleiben keinen Sinn macht. Gerade stehe ich auf, da läuft mir Martin wieder über den Weg und meint, ich solle noch ein paar Minuten Geduld haben, er kümmere sich gerade um das Lautsprecher-Problem. Martin sollte Recht behalten und ich konnte ein interessantes und amüsantes Podium erleben. Neben Gauck saßen der bei ‚Wetten dass’ verunglückte Samuel Koch, der seitdem querschnittsgelähmt ist und ein ungeheuer sympathischer Mensch, der mir bis dahin unbekannt war: Rainer Schmidt ist evangelischer Pfarrer, Kabarettist und ein Ausnahmetalent im Tischtennis. Ihm fehlen beide Unterarme, an einem Oberarm hat er einen einzelnen Daumen, für den er dankbarer ist, als die meisten Menschen für ihre beiden intakten Hände. Er ist Paralympics-Goldmedaillengewinner und versprüht einen unglaublichen Humor. Er beschreibt anschaulich den Schrecken seiner Eltern bei seiner Geburt, aber auch ihre Angst und Unsicherheit. Dann wieder lästert er über seine Schwester, die nicht singen kann, aber trotzdem in unserer Gesellschaft nicht als behindert gilt. Man spürt deutlich, die Welt wäre um einen wunderbaren Menschen ärmer, wenn Rainer Schmidt Dank vorgeburtlicher Früherkennung (die es zu seiner Zeit noch nicht gab) abgetrieben worden wäre. Das Ganze wird in erfrischender Art und ohne Berührungsängste moderiert von Markus Lanz.
Das hat sich schon mal gelohnt und ich mache mich auf den Weg zum Tibetischen Zentrum, wo ich nachmittags einen Beitrag über Jesus und Buddha hören möchte.
Eine App auf meinem Smartphone sagt mir nach Eingabe der Adresse, welche U-Bahnen ich nehmen und wie ich die letzten paar Meter zu Fuß zurücklegen muss.
Ich habe Glück, der relativ begrenzte Raum ist zwar bereits überfüllt, aber es werden vor den Fenstern Bänke aufgestellt und man versteht auch dort recht gut, was drinnen gesprochen wird. Wieder ist es schön, dass so gutes Wetter ist.
Nach einer kleinen Meditation stellen sich die beiden Referenten, ein Pastor und ein Buddhismus-Lehrer vor und berichten von ihren Erfahrungen im interreligiösen Dialog, auch mit Muslimen und Angehörigen anderer Religionen. Dann geht es um die Parallelen von Jesus und Buddha, und dabei hauptsächlich beim Thema Liebe (im Sinne der Nächstenliebe). Trotz des interessanten Themas und des vor der Veranstaltung getrunkenen Red Bulls spüre ich deutlich die ‚Nachmittags-Delle’ und fürchte schon, bei der angekündigten Abschluss-Meditation einzuschlafen. Doch das ist vollkommen unbegründet: Obwohl ich gänzlich ungeübt im Meditieren bin und meine Gedanken des Öfteren abschweifen, bin ich dabei hellwach und das sogar für den restlichen Tag (ohne weitere Koffein-Zufuhr). Das bestärkt mich in meiner Absicht, die Kunst des Meditierens zu lernen.
Als letztes besuche ich an diesem Tag ein Gospel-Konzert, zu dem ich mich wieder mit meinem Cousin verabredet habe.
Am Freitag hatte mich eigentlich eine kabarettistische Bibelarbeit mit eben dem gestern kennen gelernten Rainer Schmidt angelacht, aber mir ist wieder eine Veranstaltung um elf so wichtig, dass ich vorher nicht genügend Zeit für etwas anderes habe.
Vor zwei Jahren in Dresden sind mir ‚Die Perlen des Lebens’ oder auch ‚Perlen des Glaubens’ zum ersten Mal begegnet. Ein kleines Band mit achtzehn Perlen, vielleicht vergleichbar mit dem katholischen Rosenkranz, mit denen man meditieren kann. Zwischenzeitlich hatte ich sie vergessen, doch nun wollte ich an einem Einführungs-Workshop mit diesen Perlen teilnehmen.
Diese Veranstaltung riss mich nicht vom Hocker, da ich doch einiges schon wusste, aber sie hat mir das Perlenband wieder ein gutes Stück näher gebracht. Die Gottes-Perle, die Perlen der Stille, die Ich-Perle, usw. Ich blieb auch gleich noch zum Mittagsgebet in dieser Kirche, wo es während der gesamten drei Tage nur um die ‚Perlen des Glaubens’ ging.
Nun hatte ich einen ganz persönlichen Tagesordnungspunkt auf meiner Agenda. Ich liebäugel seit einigen Jahren mit der Partei der Grünen. Vor allem die Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt finde ich außerordentlich gut. Sie ist evangelisch, war mal im Präsidium des Kirchentags und auch in Hamburg wieder mit ein paar Veranstaltungen präsent. Zufällig hat sie heute Geburtstag und gestern auf Facebook versprochen, jeden, der an diesem Tag einen Mitgliedsantrag unterschreibt, im Laufe des Jahres persönlich zum Kaffee einzuladen. Das war genau das i-Tüpfelchen, das ich gebraucht habe: Auf dem Kirchentag und am Geburtstag dieser tollen Frau.
So suchte ich auf dem ‚Markt der Möglichkeiten’ den Stand der ‚ChristInnen bei den Grünen’ und unterschrieb. KGE war natürlich an ihrem Geburtstag nicht selber da, dafür eine gute Bekannte von Frau Murner, die ich herzlich von ihr grüßte.
Den ‚Markt der Möglichkeiten’ kann man sich vorstellen wie die ‚free’ oder eine andere herkömmliche Messe. Hier hat jede christliche Vereinigung ihren Stand, Umweltorganisationen, Sozialverbände und viele andere, die irgendwie mit einem christlichen Leben in Zusammenhang gebracht werden können.
Als ich mich auf einem der zahlreichen Papp-Hocker niederließ, um in Ruhe meine weiteren Pläne zu studieren, begann auf einem kleinen Podium eine Diskussion. ‚Die LINKE und ihr Glaube’ nannte sie sich. Allerdings würde ich die Beiträge von Gregor Gysi und den drei anderen, die da saßen, als komplette Thema-Verfehlung beurteilen, da es mal wieder ausschließlich um Geld ging. Sie sagen ja oft richtige Dinge, besonders Gregor Gysi schätze ich durchaus als intelligenten Analytiker der Probleme in unserer Gesellschaft, aber das hatte halt einfach nichts mit ‚Glaube’ zu tun, fand ich. Und da ich das meiste schon wusste, was hier erzählt wurde, stand ich auf und ging.
Ich hatte beschlossen, mir einmal die neue, aus dem Boden, nein, aus der Elbe gestampfte Hafen-City rund um die Dauer-Baustelle der Elb-Philharmonie anzusehen. Das Wetter war toll und ich war ansonsten etwas planlos. Ich beendete meinen Spaziergang an einer Open-Air-Bühne, wo es um die Chancen und die Gefahren von Sozialen Medien ging.
Einer der Talk-Gäste hier war Nicholas Baines, genannt Nick, Bischof von Bradford, England, der täglich eine gewisse Zeit mit Sozialen Netzwerken verbringt, unter anderem mit seinem eigenen Blog.
Und wen traf ich dort auf den Stufen der Magellan-Terassen – heute, ohne dass wir uns verabredet hatten? – Meinen Cousin Lars mit seiner Frau Brigitte. Zwar wollte ich deren Tochter Laila, die in Sevilla studiert und nur für zwei Tage nach Hamburg kommen wollte (nebenbei erwähnt ist sie die Patin eines unserer Kinder), im Laufe des Abends noch treffen, aber das war unabhängig von ihren Eltern geplant, die ihrerseits eigentlich zu dem großen Konzert der Wise Guys wollten. Das hatte ich zwar auch auf meinem Plan, und fast alle übrigen Pfaffenhofener wollten dort hin, doch Laila ging für mich vor.
Laila und Brigitte beschlossen, das Konzert auch sausen zu lassen, zumal sie bereits Karten für ein Konzert der Wise Guys in Kiel in ein paar Wochen hatten, und wir verbrachten einen weiteren Abend miteinander, diesmal mit Laila, ihrem Bruder Lennart und dessen Freundin am Elbstrand, wo wir mit einer öffentlichen Schiffs-Linie hinfuhren.
Samstagmorgen musste aber nun doch eine Bibelarbeit sein. Dank Eckart von Hirschhausen, der auch etliche Pfaffenhofener anzog und dessen Halle schon lange vor Beginn wegen Überfüllung geschlossen wurde, bekam ich in der Halle von Katrin Göring-Eckardt gut einen Platz. Es ging um die Speisung der 5000, in diesem Fall bei Johannes. KGE zog Parallelen zur Manna-Geschichte der Eröffnungsgottesdienste, aber auch zu den heutigen, manchmal aussichtslos scheinenden Problemen. Die Geschichte soll Mut machen, einfach mal mit fünf Broten und zwei Fischen anzufangen, Gott wird das Seinige dann dazu tun. Ein paar kleine Seitenhiebe auf die aktuelle Politik waren dabei, aber nicht zuviel.
Anschließend blieb ich noch ein bisschen in dieser Messehalle. Im hinteren Bereich war ein Parcour aufgebaut, der einem das Leben und Wirken der Theologin Dorothee Sölle nahe bringen wollte.
Ein paar Hallen weiter suchte ich nun die Stelle, an der jeweils die ‚Stadtführungen auf den Spuren des Klimawandels’ starten sollten. Leider hätte man sich dafür wegen der sehr begrenzten Kapazitäten lange vorher anmelden müssen, wie ich dort erfuhr.
In derselben Halle lief gerade eine Diskussion zu den Problemen der weltweiten Fischerei, der ich ein bisschen lauschte, bevor ich eine Halle weiter ging.
Nebenan ging es um eine ökumenische Sozialethik für das 21. Jahrhundert. Zwischendurch gaben ‚Rosi und die Knallerbsen’ ein paar Lieder zum Besten. Die Mitwirkenden, allesamt ‚Menschen mit außergewöhnlichen Beeinträchtigungen’ trafen zwar nicht jeden Ton, hatten aber sichtlich Spaß bei ihrer Darbietung.
Nun wollte ich zum ‚Michel’, der Hauptkirche Sankt Michaelis, dem bisherigen Wahrzeichen Hamburgs (und solange die Elb-Philharmonie nicht fertig wird, bleibt das wohl auch noch so).
Um dorthin zu kommen, wählte ich erstmals ein Stadtrad. Das sind die von der Deutschen Bahn an vielen Stellen aufgestellten Fahrräder, die jeder nach einer Registrierung problemlos am Terminal vor Ort oder mit Hilfe einer App ausleihen kann. Zum Kirchentag hat die Bahn die Zahl der Standorte noch mal erhöht, wie ich im Vorfeld gelesen hatte und so hatte ich mich noch zuhause online angemeldet. Die ersten 30 Minuten sind jeweils frei, dann kostet es (im Falle Hamburgs) 8 Cent pro Minute. Das Ausleihen geht wirklich ganz einfach und schnell, wie ich fasziniert feststellte. Die App zeigt einem die Standorte an, sodass auch die Rückgabe gut funktioniert.
So radelte ich von der Messe zum Michel. Schön, dass so gutes Wetter war. Dort wollte ich erstmal ganz weltlich die Aussicht vom Turm genießen und ein paar Fotos machen. Mit Kirchentags-Karte war der Turmaufstieg zwar nicht kostenlos, aber ermäßigt. Das war durchaus von Vorteil, denn sonst wäre die Schlange sicher erheblich länger gewesen.
Anschließend suchte ich mir einen Platz im Kirchenraum, wo ich die letzten Minuten einer Orgelführung mitbekam. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Musik mit diesem Instrument in den Zeiten lange bevor es Discos, Keyboards oder Verstärker gab, den Menschen geradezu göttlich vorkam. Dieser Sound, der einem durch und durch geht, wenn alle Register gezogen sind, fasziniert mich sogar heute noch, obwohl wir von Dolby Surround und Co doch alle schon so verwöhnt sind.
Die Veranstaltung, die ich mir hier im Anschluss anhören wollte, nannte sich ‚Anders wachsen – Entwickeln, was wir brauchen’ und wollte der Frage nachgehen, ob das in letzter Zeit so oft beschworene ewige Wirtschaftswachstum tatsächlich sinnvoll ist, ja ob es überhaupt möglich ist.
Leider konnte ich nicht bis zum Ende bleiben, da ich noch zu ‚Celtic Dreams’ wollte, einem Konzert mit irischen Klängen. Doch das stark akzent-lastige und für mich sehr schwer zu verstehende Englisch eines brasilianischen Professors, der gerade einen Vortrag hielt, machte es mir leichter, die Kirche Sankt Michaelis zu verlassen.
Vor der Kirche, in der das Konzert stattfinden sollte, hatten sich schon viele Menschen eingefunden, auch einige der Pfaffenhofener Jugendlichen.
Die Tontechniker hatten mit der schwierigen Akustik der modernen Kirche erhebliche Probleme, was zunächst für eine einstündige Verzögerung sorgte und schließlich sogar dazu führte, dass das Konzert ‚unplugged’ gespielt wurde, was den Klängen allerdings keinen Abbruch tat, wie auch die Musiker um Andy Lang überrascht feststellten.
Abends wollte ich eigentlich noch zu einer Veranstaltung des NDR. Andrea Sawatzki und ihr Mann Christian Berkel sollten aus dem Briefwechsel von Freya und Helmuth James von Moltke lesen. Ich war über Ostern mit meinem Vater und meinem Onkel im Rahmen einer Reise in deren Geburtsstadt Breslau auch für zwei Tage auf dem Gut Kreisau gewesen, dem letzten Sitz der Familie Moltke. Helmuth James hatte dort den ‚Kreisauer Kreis’ initiiert, eine christlich geprägte Widerstandsgruppe im Dritten Reich. Er wurde 1944 verhaftet und Anfang ’45 hingerichtet. Durch große Zufälle konnte er in diesen letzten Monaten seines Lebens jedoch brieflichen Kontakt zu seiner Frau halten. Und aus eben diesen Briefen, die ein Zeugnis schier unglaublicher Liebe zueinander und zu Gott sind, und die erst nach dem Tod Freyas 2010 veröffentlicht wurden, wurde gelesen.
Leider war ich auf Grund der Verzögerungen bei dem vorangegangenen Konzert aber hoffnungslos zu spät. So beschloss ich, stattdessen ein ganz profanes chinesisches Essen zu genießen und den programmatischen Teil des Kirchentages damit zu beenden.
Mit einem netten Gespräch auf der Bank vor unserer Unterkunft bei zwei im türkischen Kleinladen nebenan gefundenen Flaschen Münchner Augustiner ließ ich den Abend ausklingen. Steffi Brinkmann, die unsere Zwillinge aus dem Kindergottesdienst weit besser kennt als mich, half mir dabei, die beiden Flaschen nicht alleine trinken zu müssen.
Der Sonntagmorgen begann etwas früher als ich gedacht hatte, da einige Jugendliche noch unbedingt die Hamburger Attraktion ‚Fischmarkt’ erleben wollten. Einige andere blieben noch liegen und ließen sich mehr Zeit mit dem Aufbruch.
Mit letzteren suchte ich relativ gemütlich die zentrale Kirchentags-Gepäckaufbewahrung in einem am Sonntag sonst leer stehenden Parkhaus auf. Allerdings hatte sich hier bereits eine ansehnliche Schlange gebildet, sodass wir schließlich gerade noch rechtzeitig zur Predigt beim großen Schluss-Gottesdienst im Stadtpark eintrafen. Die wurde gehalten von Nicholas Baines, dem englischen Bischof, den ich schon am Freitag kennen gelernt hatte.
Mit diesen Eindrücken, bei strahlendem Sonnenschein mit tausenden anderen Menschen den Segen empfangend, Hoffnung und Zuversicht einatmend, kann ich gestärkt in den Alltag und zu meiner wunderbaren Familie zurückkehren.
Die Rückfahrt zum Hauptbahnhof gestaltete sich erheblich zügiger als ich zu träumen gewagt hatte, da zusätzlich zu den regulären U-Bahn-Verbindungen eine schier endlose Reihe Gelenkbusse (das sind die extra-langen mit dem Knick in der Mitte;-) bereitstand, um die Menschenmassen vom Stadtpark zum Hauptbahnhof zu transportieren. Wenn man diesen immensen Organisations-Aufwand und die damit verbundenen Kosten bedenkt (und die Busse mit ihren Fahrern und dem damit verbundenen Sonntags-Zuschlag(?) waren natürlich nur ein winziger Teil davon), kann man nur dankbar sein, dass die Teilnehmerkarte für den Kirchentag nur 89,- Euro kostet!
Doch auch der Deutschen Bahn möchte ich ein dickes Kompliment machen, denn auch wenn wir bei der Heimfahrt keinen ICE hatten, und unser Intercity die starken Druckschwankungen in den vielen Tunnels bei den hohen Geschwindigkeiten, die wir wohl trotzdem fuhren, nur eingeschränkt abfangen konnte – die geplante Ankunftszeit wurde auf die Minute eingehalten! Und das finde ich wegen der zahlreichen Sonderzüge nicht selbstverständlich!
Und – falls ich mich jemals gewissermaßen als etwas außen Stehender in dieser jugendlichen Pfaffenhofener Truppe gefühlt haben sollte – bei der Heimfahrt war ich bei Konfi- und anderen Spielchen mitten drin. Auch das eine schöne Erfahrung, die ich persönlich immer mit diesem Kirchentag in Erinnerung haben werde.
Interessante Links (es gäbe noch viel mehr - aber die findet Ihr auch mit Hilfe von Google & Co):
http://www.kirchentag.de/Kirchentag facebook
http://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Evangelischer_Kirchentag
http://www.ndr.de/regional/hamburg/kirchentag/kirchentag755.html (Mit Bildern des Abschluss-Gottesdienstes)
http://www.perlen-des-glaubens.de/
http://www.andy-lang.de/index.php
http://de.wikipedia.org/wiki/Helmuth_James_Graf_von_Moltke
http://de.wikipedia.org/wiki/Nicholas_Baines
http://nickbaines.wordpress.com/ (nur englisch)
Mittwoch, 1. Mai, Dreiviertel acht. Am Bahnhof finden sich etwa 20 Jugendliche, Pfarrerin Murner und ich ein.
Wir freuen uns auf den 34. Evangelischen Kirchentag in Hamburg. Es ist mein 11. Im Sommer ’89 in Berlin (West) war ich als Sechzehnjähriger zum ersten Mal dabei gewesen. Nur 2005, ’07 und ’09 habe ich ausgelassen, zum einen, weil sich bei mir eine gewisse Sättigung eingestellt hatte, zum anderen, weil mein Chef nicht begeistert ist, wenn wir Busfahrer im Frühsommer Urlaub nehmen.
Doch als ich 2010 beim Ökumenischen Kirchentag in München zwei einzelne Tage in die Kirchentags-Welt eintauchte, habe ich wieder Blut geleckt: Vor zwei Jahren war ich in Dresden und nun selbstverständlich in Hamburg. Da muss mein Chef halt jetzt wieder alle zwei Jahre durch…
Leider hatte ich (mal wieder) zu spät damit angefangen, das umfangreiche Programm mit den 2000 Veranstaltungen durchzusehen. Das kann man wie seit eh und je in Papierform, aber seit Neuestem auch online und per Smartphone-App. Bei den beiden letzten Versionen kann man gezielt nach Schlagwörtern wie ‚Gospel’ oder nach Personen wie ‚Gauck’, ‚Käßmann’ oder ‚von Hirschhausen’ suchen.
Ich habe mir im Laufe der Jahre jedoch angewöhnt, das komplette Programm durchzusehen, alles zu markieren, was mich irgendwie interessiert (selbst wenn davon vieles gleichzeitig stattfindet) und dann Prioritäten zu vergeben, um die Veranstaltungen, die mir am wichtigsten sind, möglichst nicht zu verpassen. So bleibe ich flexibel, wenn eine favorisierte Veranstaltung überfüllt ist und ich kann schnell feststellen, ob ich etwas auf meiner persönlichen Liste habe, das vielleicht auch andere aus der Pfaffenhofener Gruppe interessiert.
Flexibel bleiben ist überhaupt wichtig auf Kirchentagen, nicht frustriert sein, wenn man vieles nicht schafft und auch Zeiten wahrnehmen, um sich auszutauschen und manches einfach setzen zu lassen. Das ‚Jetzt’ genießen an Alster oder Elbe, auf der Wiese vor dem Michel, dem Hamburger Wahrzeichen, oder auf den Promenaden der nagelneuen Hafen-City rund um die ewige Baustelle ‚Elb-Philharmonie’.
Die Zugfahrt verlief gut und schnell. Ich hatte das unverdiente Privileg, zwei Plätze für mich zu haben, da die Jugendlichen lieber auf- und übereinander saßen, als zu weit ab vom Schuss zu sein.
Unsere Unterkunft hätte kaum besser sein können. Noch nie war ich bei einem Kirchentag so zentral einquartiert und auch die Anzahl der mit uns in der kleinen Schule Untergebrachten war übersichtlich genug, dass man morgens an den wenigen Duschen im separaten Sport-Gebäude nicht Schlange stehen musste. Aber der Clou war: Die beiden Klassenzimmer, in denen wir brav nach Geschlecht getrennt nächtigen sollten, hatten ein kleines, durch eine Fensterfront vom Hauptraum getrenntes Separee. Und nachdem sich die Jungs bereits im Raum verteilt hatten, erhob niemand Einspruch, als ich als deutlich Ältester um diesen Nebenraum bat. Sogar ein kleines Waschbecken befand sich dort, das aber selbstverständlich von allen benutzt wurde. So hatte ich gleichzeitig ein gewisses Gemeinschaftsgefühl, das einem entgeht, wenn man einzeln bei Privat-Leuten übernachtet, und dennoch ein Einzelzimmer. Ich war begeistert!
Die Eröffnungsgottesdienste fanden an vier verschiedenen Orten statt. Während die anderen Pfaffenhofener den örtlich nächsten an der Reeperbahn wählten, verabredete ich mich am Fischmarkt mit meinem Cousin Lars aus Kiel, den ich naturgemäß selten, manchmal über Jahre hinweg nicht sehe.
Predigttext war die Manna-Geschichte aus 2. Mose 16, der auch das diesjährige Kirchentags-Motto entnommen war: „Soviel du brauchst“.
War es eigentlich Zufall, dass ich für die Kollekte dieses Gottesdienstes ausgerechnet ein 2-Euro-Stück aus dem Geldbeutel fischte, auf dem der Hamburger Michel abgebildet war?!?
Mit Lars, seiner Frau und ihren Hamburger Freunden, bei denen sie während des Kirchentages Unterschlupf gefunden haben, verbrachte ich dann auch den Rest des Abends, zunächst abseits des Kirchentagsgeschehens in einer kleinen Bar an der Elbe, später bei Johnny Logan am Rathausmarkt und beim Abendsegen an der Alster mit Lichtermeer aus unzähligen Kerzen. Schließlich wollten wir uns bei einem ‚Absacker’ noch ein wenig unterhalten. Dabei hatten wir so tiefgründige Gespräche, die man bei herkömmlichen Familientreffen selten hat, sodass es für mich richtig knapp wurde, unsere Schule zu erreichen, bevor sie um ein Uhr abgeschlossen wurde. Natürlich war der Akku meines Smartphones leer und natürlich hatte ich den konventionellen Stadtplan aus Fleisch und Blut, ich meine aus Papier und Farbe nicht dabei. Ich wurde zunehmend nervös und beschloss schließlich um zwanzig vor eins, ein Taxi zu nehmen. Die Kosten dafür hielten sich aber Dank der bereits erwähnten zentralen Lage unserer Schule in Grenzen.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, am ‚Abend der Begegnung’, wie der erste Abend eines jeden Kirchentages heißt, nicht sehr ‚alt zu werden’, aber nun war ich doch der Letzte, der sich auf seine Luftmatratze legte.
Die meisten Veranstaltungen eines Kirchentages finden an den Tagen 2 bis 4 statt. Konzerte in den unterschiedlichsten Musikrichtungen, zum Mitsingen oder nur zum Zuhören, politische und ethische Diskussionen, viele Filme (natürlich eher solche, die auf ARTE laufen würden, als auf RTL2), theologische Vorträge, vierstündige Pilger-Wanderungen, Kabarett-Programme (nicht nur mit so Namhaften wie Eckart von Hirschhausen), spirituelle Workshops, thematische Stadtführungen, Gottesdienste für Motorradfahrer, für Jugendliche, für Eltern, die ein Kind verloren haben, für Frischverliebte – da ist für jeden etwas dabei! Und im Laufe der Jahre und mit zunehmendem Alter ändern sich die Interessen natürlich, so habe ich 1989 ganz andere Veranstaltungen besucht als 2013. Aber immer noch finde ich im Programm viel mehr als ich während der paar Tage wahrnehmen kann.
Eine Bibelarbeit, in der jeweils um halb zehn mehr oder weniger bekannte Personen den Tages-Bibelvers auslegen, schenke ich mir heute noch. Der Rock-Gottesdienst, den sich einige Jugendliche ausgesucht haben, steht zwar auch auf meiner Favoriten-Liste, aber ich möchte lieber um elf zu einer Diskussion auf dem Messegelände über den Zustand unserer Gesellschaft, bei der unser Bundespräsident Gauck auf dem Podium sitzen wird. Und beides haut nicht hin.
Bis dahin nutze ich die Zeit, durch die Kirchentagsbuchhandlung zu schlendern. Hier muss ich mich immer sehr bremsen. Zu viele schöne und eben auch sinnvolle Dinge findet man hier. Klar, Bücher natürlich, zum Nachdenken über sich, über Gott und über die Welt, aber auch Postkarten mit mehr oder weniger frommen Sprüchen, Schlüsselanhänger in Fisch- oder Kreuzform, Frühstücksbrettchen mit Segensspruch oder ohne, Aufkleber, biblische Rätsel, und, und, und. Ein paar Mitbringsel für meine Kinder sind schnell gefunden und ich mache mich auf den Weg zu Halle B5. Dabei laufe ich einem Bekannten über den Weg. Martin ist Forstwissenschaftler in Montana, USA, saß vor zwei Jahren mit anderen amerikanischen Forstleuten in einem von mir gelenkten Bus, um sich die vorbildlichen bayerischen Wälder anzusehen, stammt aus Niedersachsen, und ‚nebenbei’ ist er Mitglied des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentages… Die Welt ist klein.
Halle B5 ist überfüllt. Natürlich, dort hält eine gewisse Frau Käßmann gerade eine der heutigen Bibelarbeiten. Vor dem Eingang bereits eine beachtliche Zahl Menschen, die wohl der aussichtslosen Hoffnung sind, nach der Bibelarbeit würden genügend Zuhörer die Halle verlassen, damit sie zu Gauck hineinkommen. Es verbreitet sich die Kunde, die Gauck-Veranstaltung würde nach außen übertragen. Ich suche mir ein Plätzchen auf dem Boden vor den Lautsprechern. Schön, dass so gutes Wetter ist.
Ich habe richtig geschätzt: Von den etwa 5000 Menschen verlassen die Halle ungefähr 20 nach der Bibelarbeit und ebenso viele werden hinein gelassen.
Leider ist die Übertragungsqualität über die Lautsprecher katastrophal, sodass ich nach zehn Minuten beschließe, dass ein Bleiben keinen Sinn macht. Gerade stehe ich auf, da läuft mir Martin wieder über den Weg und meint, ich solle noch ein paar Minuten Geduld haben, er kümmere sich gerade um das Lautsprecher-Problem. Martin sollte Recht behalten und ich konnte ein interessantes und amüsantes Podium erleben. Neben Gauck saßen der bei ‚Wetten dass’ verunglückte Samuel Koch, der seitdem querschnittsgelähmt ist und ein ungeheuer sympathischer Mensch, der mir bis dahin unbekannt war: Rainer Schmidt ist evangelischer Pfarrer, Kabarettist und ein Ausnahmetalent im Tischtennis. Ihm fehlen beide Unterarme, an einem Oberarm hat er einen einzelnen Daumen, für den er dankbarer ist, als die meisten Menschen für ihre beiden intakten Hände. Er ist Paralympics-Goldmedaillengewinner und versprüht einen unglaublichen Humor. Er beschreibt anschaulich den Schrecken seiner Eltern bei seiner Geburt, aber auch ihre Angst und Unsicherheit. Dann wieder lästert er über seine Schwester, die nicht singen kann, aber trotzdem in unserer Gesellschaft nicht als behindert gilt. Man spürt deutlich, die Welt wäre um einen wunderbaren Menschen ärmer, wenn Rainer Schmidt Dank vorgeburtlicher Früherkennung (die es zu seiner Zeit noch nicht gab) abgetrieben worden wäre. Das Ganze wird in erfrischender Art und ohne Berührungsängste moderiert von Markus Lanz.
Das hat sich schon mal gelohnt und ich mache mich auf den Weg zum Tibetischen Zentrum, wo ich nachmittags einen Beitrag über Jesus und Buddha hören möchte.
Eine App auf meinem Smartphone sagt mir nach Eingabe der Adresse, welche U-Bahnen ich nehmen und wie ich die letzten paar Meter zu Fuß zurücklegen muss.
Ich habe Glück, der relativ begrenzte Raum ist zwar bereits überfüllt, aber es werden vor den Fenstern Bänke aufgestellt und man versteht auch dort recht gut, was drinnen gesprochen wird. Wieder ist es schön, dass so gutes Wetter ist.
Nach einer kleinen Meditation stellen sich die beiden Referenten, ein Pastor und ein Buddhismus-Lehrer vor und berichten von ihren Erfahrungen im interreligiösen Dialog, auch mit Muslimen und Angehörigen anderer Religionen. Dann geht es um die Parallelen von Jesus und Buddha, und dabei hauptsächlich beim Thema Liebe (im Sinne der Nächstenliebe). Trotz des interessanten Themas und des vor der Veranstaltung getrunkenen Red Bulls spüre ich deutlich die ‚Nachmittags-Delle’ und fürchte schon, bei der angekündigten Abschluss-Meditation einzuschlafen. Doch das ist vollkommen unbegründet: Obwohl ich gänzlich ungeübt im Meditieren bin und meine Gedanken des Öfteren abschweifen, bin ich dabei hellwach und das sogar für den restlichen Tag (ohne weitere Koffein-Zufuhr). Das bestärkt mich in meiner Absicht, die Kunst des Meditierens zu lernen.
Als letztes besuche ich an diesem Tag ein Gospel-Konzert, zu dem ich mich wieder mit meinem Cousin verabredet habe.
Am Freitag hatte mich eigentlich eine kabarettistische Bibelarbeit mit eben dem gestern kennen gelernten Rainer Schmidt angelacht, aber mir ist wieder eine Veranstaltung um elf so wichtig, dass ich vorher nicht genügend Zeit für etwas anderes habe.
Vor zwei Jahren in Dresden sind mir ‚Die Perlen des Lebens’ oder auch ‚Perlen des Glaubens’ zum ersten Mal begegnet. Ein kleines Band mit achtzehn Perlen, vielleicht vergleichbar mit dem katholischen Rosenkranz, mit denen man meditieren kann. Zwischenzeitlich hatte ich sie vergessen, doch nun wollte ich an einem Einführungs-Workshop mit diesen Perlen teilnehmen.
Diese Veranstaltung riss mich nicht vom Hocker, da ich doch einiges schon wusste, aber sie hat mir das Perlenband wieder ein gutes Stück näher gebracht. Die Gottes-Perle, die Perlen der Stille, die Ich-Perle, usw. Ich blieb auch gleich noch zum Mittagsgebet in dieser Kirche, wo es während der gesamten drei Tage nur um die ‚Perlen des Glaubens’ ging.
Nun hatte ich einen ganz persönlichen Tagesordnungspunkt auf meiner Agenda. Ich liebäugel seit einigen Jahren mit der Partei der Grünen. Vor allem die Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt finde ich außerordentlich gut. Sie ist evangelisch, war mal im Präsidium des Kirchentags und auch in Hamburg wieder mit ein paar Veranstaltungen präsent. Zufällig hat sie heute Geburtstag und gestern auf Facebook versprochen, jeden, der an diesem Tag einen Mitgliedsantrag unterschreibt, im Laufe des Jahres persönlich zum Kaffee einzuladen. Das war genau das i-Tüpfelchen, das ich gebraucht habe: Auf dem Kirchentag und am Geburtstag dieser tollen Frau.
So suchte ich auf dem ‚Markt der Möglichkeiten’ den Stand der ‚ChristInnen bei den Grünen’ und unterschrieb. KGE war natürlich an ihrem Geburtstag nicht selber da, dafür eine gute Bekannte von Frau Murner, die ich herzlich von ihr grüßte.
Den ‚Markt der Möglichkeiten’ kann man sich vorstellen wie die ‚free’ oder eine andere herkömmliche Messe. Hier hat jede christliche Vereinigung ihren Stand, Umweltorganisationen, Sozialverbände und viele andere, die irgendwie mit einem christlichen Leben in Zusammenhang gebracht werden können.
Als ich mich auf einem der zahlreichen Papp-Hocker niederließ, um in Ruhe meine weiteren Pläne zu studieren, begann auf einem kleinen Podium eine Diskussion. ‚Die LINKE und ihr Glaube’ nannte sie sich. Allerdings würde ich die Beiträge von Gregor Gysi und den drei anderen, die da saßen, als komplette Thema-Verfehlung beurteilen, da es mal wieder ausschließlich um Geld ging. Sie sagen ja oft richtige Dinge, besonders Gregor Gysi schätze ich durchaus als intelligenten Analytiker der Probleme in unserer Gesellschaft, aber das hatte halt einfach nichts mit ‚Glaube’ zu tun, fand ich. Und da ich das meiste schon wusste, was hier erzählt wurde, stand ich auf und ging.
Ich hatte beschlossen, mir einmal die neue, aus dem Boden, nein, aus der Elbe gestampfte Hafen-City rund um die Dauer-Baustelle der Elb-Philharmonie anzusehen. Das Wetter war toll und ich war ansonsten etwas planlos. Ich beendete meinen Spaziergang an einer Open-Air-Bühne, wo es um die Chancen und die Gefahren von Sozialen Medien ging.
Einer der Talk-Gäste hier war Nicholas Baines, genannt Nick, Bischof von Bradford, England, der täglich eine gewisse Zeit mit Sozialen Netzwerken verbringt, unter anderem mit seinem eigenen Blog.
Und wen traf ich dort auf den Stufen der Magellan-Terassen – heute, ohne dass wir uns verabredet hatten? – Meinen Cousin Lars mit seiner Frau Brigitte. Zwar wollte ich deren Tochter Laila, die in Sevilla studiert und nur für zwei Tage nach Hamburg kommen wollte (nebenbei erwähnt ist sie die Patin eines unserer Kinder), im Laufe des Abends noch treffen, aber das war unabhängig von ihren Eltern geplant, die ihrerseits eigentlich zu dem großen Konzert der Wise Guys wollten. Das hatte ich zwar auch auf meinem Plan, und fast alle übrigen Pfaffenhofener wollten dort hin, doch Laila ging für mich vor.
Laila und Brigitte beschlossen, das Konzert auch sausen zu lassen, zumal sie bereits Karten für ein Konzert der Wise Guys in Kiel in ein paar Wochen hatten, und wir verbrachten einen weiteren Abend miteinander, diesmal mit Laila, ihrem Bruder Lennart und dessen Freundin am Elbstrand, wo wir mit einer öffentlichen Schiffs-Linie hinfuhren.
Samstagmorgen musste aber nun doch eine Bibelarbeit sein. Dank Eckart von Hirschhausen, der auch etliche Pfaffenhofener anzog und dessen Halle schon lange vor Beginn wegen Überfüllung geschlossen wurde, bekam ich in der Halle von Katrin Göring-Eckardt gut einen Platz. Es ging um die Speisung der 5000, in diesem Fall bei Johannes. KGE zog Parallelen zur Manna-Geschichte der Eröffnungsgottesdienste, aber auch zu den heutigen, manchmal aussichtslos scheinenden Problemen. Die Geschichte soll Mut machen, einfach mal mit fünf Broten und zwei Fischen anzufangen, Gott wird das Seinige dann dazu tun. Ein paar kleine Seitenhiebe auf die aktuelle Politik waren dabei, aber nicht zuviel.
Anschließend blieb ich noch ein bisschen in dieser Messehalle. Im hinteren Bereich war ein Parcour aufgebaut, der einem das Leben und Wirken der Theologin Dorothee Sölle nahe bringen wollte.
Ein paar Hallen weiter suchte ich nun die Stelle, an der jeweils die ‚Stadtführungen auf den Spuren des Klimawandels’ starten sollten. Leider hätte man sich dafür wegen der sehr begrenzten Kapazitäten lange vorher anmelden müssen, wie ich dort erfuhr.
In derselben Halle lief gerade eine Diskussion zu den Problemen der weltweiten Fischerei, der ich ein bisschen lauschte, bevor ich eine Halle weiter ging.
Nebenan ging es um eine ökumenische Sozialethik für das 21. Jahrhundert. Zwischendurch gaben ‚Rosi und die Knallerbsen’ ein paar Lieder zum Besten. Die Mitwirkenden, allesamt ‚Menschen mit außergewöhnlichen Beeinträchtigungen’ trafen zwar nicht jeden Ton, hatten aber sichtlich Spaß bei ihrer Darbietung.
Nun wollte ich zum ‚Michel’, der Hauptkirche Sankt Michaelis, dem bisherigen Wahrzeichen Hamburgs (und solange die Elb-Philharmonie nicht fertig wird, bleibt das wohl auch noch so).
Um dorthin zu kommen, wählte ich erstmals ein Stadtrad. Das sind die von der Deutschen Bahn an vielen Stellen aufgestellten Fahrräder, die jeder nach einer Registrierung problemlos am Terminal vor Ort oder mit Hilfe einer App ausleihen kann. Zum Kirchentag hat die Bahn die Zahl der Standorte noch mal erhöht, wie ich im Vorfeld gelesen hatte und so hatte ich mich noch zuhause online angemeldet. Die ersten 30 Minuten sind jeweils frei, dann kostet es (im Falle Hamburgs) 8 Cent pro Minute. Das Ausleihen geht wirklich ganz einfach und schnell, wie ich fasziniert feststellte. Die App zeigt einem die Standorte an, sodass auch die Rückgabe gut funktioniert.
So radelte ich von der Messe zum Michel. Schön, dass so gutes Wetter war. Dort wollte ich erstmal ganz weltlich die Aussicht vom Turm genießen und ein paar Fotos machen. Mit Kirchentags-Karte war der Turmaufstieg zwar nicht kostenlos, aber ermäßigt. Das war durchaus von Vorteil, denn sonst wäre die Schlange sicher erheblich länger gewesen.
Anschließend suchte ich mir einen Platz im Kirchenraum, wo ich die letzten Minuten einer Orgelführung mitbekam. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Musik mit diesem Instrument in den Zeiten lange bevor es Discos, Keyboards oder Verstärker gab, den Menschen geradezu göttlich vorkam. Dieser Sound, der einem durch und durch geht, wenn alle Register gezogen sind, fasziniert mich sogar heute noch, obwohl wir von Dolby Surround und Co doch alle schon so verwöhnt sind.
Die Veranstaltung, die ich mir hier im Anschluss anhören wollte, nannte sich ‚Anders wachsen – Entwickeln, was wir brauchen’ und wollte der Frage nachgehen, ob das in letzter Zeit so oft beschworene ewige Wirtschaftswachstum tatsächlich sinnvoll ist, ja ob es überhaupt möglich ist.
Leider konnte ich nicht bis zum Ende bleiben, da ich noch zu ‚Celtic Dreams’ wollte, einem Konzert mit irischen Klängen. Doch das stark akzent-lastige und für mich sehr schwer zu verstehende Englisch eines brasilianischen Professors, der gerade einen Vortrag hielt, machte es mir leichter, die Kirche Sankt Michaelis zu verlassen.
Vor der Kirche, in der das Konzert stattfinden sollte, hatten sich schon viele Menschen eingefunden, auch einige der Pfaffenhofener Jugendlichen.
Die Tontechniker hatten mit der schwierigen Akustik der modernen Kirche erhebliche Probleme, was zunächst für eine einstündige Verzögerung sorgte und schließlich sogar dazu führte, dass das Konzert ‚unplugged’ gespielt wurde, was den Klängen allerdings keinen Abbruch tat, wie auch die Musiker um Andy Lang überrascht feststellten.
Abends wollte ich eigentlich noch zu einer Veranstaltung des NDR. Andrea Sawatzki und ihr Mann Christian Berkel sollten aus dem Briefwechsel von Freya und Helmuth James von Moltke lesen. Ich war über Ostern mit meinem Vater und meinem Onkel im Rahmen einer Reise in deren Geburtsstadt Breslau auch für zwei Tage auf dem Gut Kreisau gewesen, dem letzten Sitz der Familie Moltke. Helmuth James hatte dort den ‚Kreisauer Kreis’ initiiert, eine christlich geprägte Widerstandsgruppe im Dritten Reich. Er wurde 1944 verhaftet und Anfang ’45 hingerichtet. Durch große Zufälle konnte er in diesen letzten Monaten seines Lebens jedoch brieflichen Kontakt zu seiner Frau halten. Und aus eben diesen Briefen, die ein Zeugnis schier unglaublicher Liebe zueinander und zu Gott sind, und die erst nach dem Tod Freyas 2010 veröffentlicht wurden, wurde gelesen.
Leider war ich auf Grund der Verzögerungen bei dem vorangegangenen Konzert aber hoffnungslos zu spät. So beschloss ich, stattdessen ein ganz profanes chinesisches Essen zu genießen und den programmatischen Teil des Kirchentages damit zu beenden.
Mit einem netten Gespräch auf der Bank vor unserer Unterkunft bei zwei im türkischen Kleinladen nebenan gefundenen Flaschen Münchner Augustiner ließ ich den Abend ausklingen. Steffi Brinkmann, die unsere Zwillinge aus dem Kindergottesdienst weit besser kennt als mich, half mir dabei, die beiden Flaschen nicht alleine trinken zu müssen.
Der Sonntagmorgen begann etwas früher als ich gedacht hatte, da einige Jugendliche noch unbedingt die Hamburger Attraktion ‚Fischmarkt’ erleben wollten. Einige andere blieben noch liegen und ließen sich mehr Zeit mit dem Aufbruch.
Mit letzteren suchte ich relativ gemütlich die zentrale Kirchentags-Gepäckaufbewahrung in einem am Sonntag sonst leer stehenden Parkhaus auf. Allerdings hatte sich hier bereits eine ansehnliche Schlange gebildet, sodass wir schließlich gerade noch rechtzeitig zur Predigt beim großen Schluss-Gottesdienst im Stadtpark eintrafen. Die wurde gehalten von Nicholas Baines, dem englischen Bischof, den ich schon am Freitag kennen gelernt hatte.
Mit diesen Eindrücken, bei strahlendem Sonnenschein mit tausenden anderen Menschen den Segen empfangend, Hoffnung und Zuversicht einatmend, kann ich gestärkt in den Alltag und zu meiner wunderbaren Familie zurückkehren.
Die Rückfahrt zum Hauptbahnhof gestaltete sich erheblich zügiger als ich zu träumen gewagt hatte, da zusätzlich zu den regulären U-Bahn-Verbindungen eine schier endlose Reihe Gelenkbusse (das sind die extra-langen mit dem Knick in der Mitte;-) bereitstand, um die Menschenmassen vom Stadtpark zum Hauptbahnhof zu transportieren. Wenn man diesen immensen Organisations-Aufwand und die damit verbundenen Kosten bedenkt (und die Busse mit ihren Fahrern und dem damit verbundenen Sonntags-Zuschlag(?) waren natürlich nur ein winziger Teil davon), kann man nur dankbar sein, dass die Teilnehmerkarte für den Kirchentag nur 89,- Euro kostet!
Doch auch der Deutschen Bahn möchte ich ein dickes Kompliment machen, denn auch wenn wir bei der Heimfahrt keinen ICE hatten, und unser Intercity die starken Druckschwankungen in den vielen Tunnels bei den hohen Geschwindigkeiten, die wir wohl trotzdem fuhren, nur eingeschränkt abfangen konnte – die geplante Ankunftszeit wurde auf die Minute eingehalten! Und das finde ich wegen der zahlreichen Sonderzüge nicht selbstverständlich!
Und – falls ich mich jemals gewissermaßen als etwas außen Stehender in dieser jugendlichen Pfaffenhofener Truppe gefühlt haben sollte – bei der Heimfahrt war ich bei Konfi- und anderen Spielchen mitten drin. Auch das eine schöne Erfahrung, die ich persönlich immer mit diesem Kirchentag in Erinnerung haben werde.
Interessante Links (es gäbe noch viel mehr - aber die findet Ihr auch mit Hilfe von Google & Co):
http://www.kirchentag.de/Kirchentag facebook
http://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Evangelischer_Kirchentag
http://www.ndr.de/regional/hamburg/kirchentag/kirchentag755.html (Mit Bildern des Abschluss-Gottesdienstes)
http://www.perlen-des-glaubens.de/
http://www.andy-lang.de/index.php
http://de.wikipedia.org/wiki/Helmuth_James_Graf_von_Moltke
http://de.wikipedia.org/wiki/Nicholas_Baines
http://nickbaines.wordpress.com/ (nur englisch)
... link (0 Kommentare) ... comment
Mittwoch, 16. Januar 2013
Diese vermaledeite Go-Box!Oder:Ein weiteres Kapitel aus der Reihe„Ohne diese Sachen wäre mein Beruf einfach noch schöner!“
si.kei, 12:24h
Ich bin auf dem Weg nach Wien. Nach mehr als drei Jahren mal wieder. Ich bin gut drauf. Die Gruppe kenne ich, zumindest zum Teil.
Grenzübergang zu Österreich. Im Gegensatz zu Deutschland sind Busse dort auf den Autobahnen mautpflichtig. Dazu ist jeder mit einer sogenannten „Go-Box“ ausgestattet. Die registriert, wenn man unter einer „Maut-Brücke“ durchfährt und davon gibt es immer je eine zwischen zwei Autobahnausfahrten. Die erste gleich ein paar hundert Meter hinter der Grenze, bevor sich die Autobahn vor Salzburg gabelt.
Die Go-Box muss dabei einmal piepsen, das signalisiert das korrekte Abbuchen des jeweiligen kilometer-abhängigen Geldbetrages.
Meine Go-Box piepst viermal! Bravo! Mal wieder! Wie oft habe ich das nun schon gehabt!
Ein viermaliges Piepsen signalisiert, dass etwas nicht in Ordnung ist und der entsprechende Betrag nicht abgebucht werden konnte. Man hat dann fünf Stunden Zeit, eine autorisierte Stelle anzufahren – meist Tankstellen an der Autobahn – um den fehlenden Betrag zu begleichen und die Go-Box in Ordnung bringen zu lassen.
Soweit wusste ich das aus der leidvollen Erfahrung einer Kollegin.
Sie war damals nur nach Salzburg gefahren, hatte also die österreichische Autobahn lediglich für ein paar Kilometer befahren. Ihre Go-Box hatte dabei viermal gepiepst, was sie aber nur zum Anlass nahm, nach ihrer Rückkunft am Betriebshof den Chef darüber in Kenntnis zu setzen. Dieser rief umgehend die ASFiNAG (keine Ahnung, was das heißt, aber das ist die Betreiber-Gesellschaft dieses Maut-Systems) an und berichtete von dem Vorfall, verbunden mit der Absichtserklärung den entsprechenden einstelligen Euro-Betrag sofort zu überweisen.
So gehe das nicht, wurde ihm erwidert. Man müsse innerhalb von einer fünfstündigen Frist mitsamt der entsprechenden Go-Box bei einer der autorisierten Stellen erscheinen. Dafür war es leider zu spät. Bums! 220,- Euro Strafe!
Wie oft ich es seitdem schon erlebt habe, dass diese vermaledeite Go-Box viermal piepste!
Und gerade mit diesem Bus war es erst zwei Jahre her gewesen! Was war bloß jetzt schon wieder?!?
Als Busfahrer möchte man ja seine Pausen-Einteilung auch ein bisschen nach den Bedürfnissen der Fahrgäste richten.
Immerhin: Die letzten paar Male war die Bearbeitung des entsprechenden Fehlers recht zügig (will heißen in unter zehn Minuten) von statten gegangen, aber ich stand auch schon mal länger als zwanzig Minuten wegen dieses Blödsinns. Und wenn dann die letzte Pause sowieso erst eine halbe Stunde her ist, sind die Fahrgäste begeistert, wie man sich vorstellen kann!
Nun gut, man hat ja fünf Stunden Zeit. Dachte ich zumindest bis dahin.
Und wir hatten sowieso noch keine Pause gemacht, also bot sich der nächste Autobahnrasthof an.
Salzburg-Nord, eine Viertelstunde „Mehrzweck-Pause“.
„Leider ist dies die einzige Raststätte in ganz Österreich, die nicht für die Go-Box autorisiert ist.“ So sagte es der Tankwart zwar nicht, aber so kam es mir vor. Jedenfalls konnte er mir nicht helfen. Toll.
Na gut, bis Wien sind es ja noch ein paar Stündchen, wir wollen ja auch mal Mittag machen – ich brauche von Gesetzes wegen irgendwann auch eine halbstündige Pause, das werden wir wohl innerhalb der fünf Stunden schaffen. Kein Stress. Und nicht in ein paar Kilometern gleich wieder eine Pause nur um den Go-Box-Fehler zu beheben.
Das ständige durchdringende viermalige Piepsen stört immerhin die Fahrgäste nicht sonderlich. Behaupten sie zumindest.
Kurz vorm Voralpenkreuz sehe ich im Rückspiegel ein Fahrzeug der ASFiNAG langsam näher kommen. Die haben sogar ein Blaulicht, um diese hochgradig kriminellen Verbrecher zu jagen, die versuchen, die Maut zu prellen. Es ist zwar nicht eingeschaltet, aber dennoch beschleicht mich eine leise Ahnung, dass die vielleicht nach mir suchen. So blicke ich sofort nach links, als sie neben mir sind. Und richtig: Sie deuten mir an, ihnen zu folgen.
Man muss nämlich wissen, dass an einigen dieser Maut-Brücken auch Video-Kameras installiert sind, um Maut-Preller zu entlarven. Big Brother is watching us.
Ich glaube immer noch, alles korrekt gemacht zu haben.
Die beiden Herren werfen mir freundlich, aber bestimmt an den Kopf, ich würde ihre Autobahn befahren, ohne dafür zu bezahlen.
Ich schildere ihnen unseren ersten vergeblichen Versuch, den Fehler zu beheben, lasse die Fahrgäste der ersten Reihe bezeugend mit dem Kopf nicken und verweise auf die fünf Stunden, die man doch Zeit habe.
„Ja, fünf Stunden“, bestätigen sie, „Aber nicht mehr als hundert Kilometer.“
Oh.
„Ach du Schreck! Das wusste ich nicht!“ entfährt es mir. Und: „Ich kann doch nicht alle paar Minuten Pause machen. Ich war der felsenfesten Überzeugung, ich könnte das in der Mittagspause erledigen, die wir sowieso noch vor Wien einlegen werden.“
Die Herren sind milde gestimmt. Sie verweisen mich auf die nächste Raststätte in ein paar Kilometern und wünschen mir Glück.
Wie meinen die das?
Der Tacho zeigt achtundneunzig Kilometer seit der Grenze. Bis zum Rastplatz sind es noch fünf Kilometer.
Zweihundertzwanzig Euro. Ich fange schon an, mich mit dieser Strafe abzufinden Und hadere mit den Umständen.
Wenn ich ein Spitzbube wäre. Wenn ich’s immer drauf anlegen würde. Wenn ich nicht ständig darauf bedacht wäre, alles korrekt zu machen. Es möglichst vielen recht zu machen.
Die Frau in der Tankstelle wird keine Wahl haben. Der Computer wird ihr anzeigen: 103km – 220,- Euro Strafe. Kein Ermessensspielraum. Bums.
Warum? Wir hätten doch sowieso keine Chance, die Maut zu prellen. Die haben die Daten meines Chefs. Der hat noch andere Busse dort registriert. Wir fahren ständig nach Österreich.
Warum können die nicht einfach davon ausgehen, dass wir bezahlen werden?
Es nervt.
Wir erreichen den Rasthof. Dann machen wir eben hier schon unsere 30 Minuten Mittag. Die Fahrgäste sehen’s wenigstens gelassen und drücken mir die Daumen.
Mit klopfendem Herzen gehe ich zur Tankstelle.
Die Dame nimmt die Go-Box entgegen und liest sie aus.
„Sie müssen 24,- Euro nachzahlen“, sagt sie. Sonst nichts. Nichts von „mehr als hundert Kilometer“ nichts von Strafe, nichts von 220,- Euro.
Sollte ich doch noch mal Glück gehabt haben? Ganz sicher bin ich mir da immer noch nicht. Was wenn die Strafe von zentraler Stelle eingefordert wird und sie demnächst per Post kommt? Wenn die Maschinerie des automatischen „Haftbefehl-Versands“ beim Befahren des hundertersten Kilometers schon angelaufen ist? Bei der kleinlichen Erfahrung meiner Kollegin halte ich dies durchaus für möglich. Aber doch für immer unwahrscheinlicher. Es geht mir besser.
Nur: Gegessen habe ich noch gar nichts. Fünfzehn Minuten habe ich noch, inklusive Klo-Gang. Danach soll ich wieder fit, ausgeruht und satt die restlichen drei Stunden bis Wien sicher absolvieren…
Grenzübergang zu Österreich. Im Gegensatz zu Deutschland sind Busse dort auf den Autobahnen mautpflichtig. Dazu ist jeder mit einer sogenannten „Go-Box“ ausgestattet. Die registriert, wenn man unter einer „Maut-Brücke“ durchfährt und davon gibt es immer je eine zwischen zwei Autobahnausfahrten. Die erste gleich ein paar hundert Meter hinter der Grenze, bevor sich die Autobahn vor Salzburg gabelt.
Die Go-Box muss dabei einmal piepsen, das signalisiert das korrekte Abbuchen des jeweiligen kilometer-abhängigen Geldbetrages.
Meine Go-Box piepst viermal! Bravo! Mal wieder! Wie oft habe ich das nun schon gehabt!
Ein viermaliges Piepsen signalisiert, dass etwas nicht in Ordnung ist und der entsprechende Betrag nicht abgebucht werden konnte. Man hat dann fünf Stunden Zeit, eine autorisierte Stelle anzufahren – meist Tankstellen an der Autobahn – um den fehlenden Betrag zu begleichen und die Go-Box in Ordnung bringen zu lassen.
Soweit wusste ich das aus der leidvollen Erfahrung einer Kollegin.
Sie war damals nur nach Salzburg gefahren, hatte also die österreichische Autobahn lediglich für ein paar Kilometer befahren. Ihre Go-Box hatte dabei viermal gepiepst, was sie aber nur zum Anlass nahm, nach ihrer Rückkunft am Betriebshof den Chef darüber in Kenntnis zu setzen. Dieser rief umgehend die ASFiNAG (keine Ahnung, was das heißt, aber das ist die Betreiber-Gesellschaft dieses Maut-Systems) an und berichtete von dem Vorfall, verbunden mit der Absichtserklärung den entsprechenden einstelligen Euro-Betrag sofort zu überweisen.
So gehe das nicht, wurde ihm erwidert. Man müsse innerhalb von einer fünfstündigen Frist mitsamt der entsprechenden Go-Box bei einer der autorisierten Stellen erscheinen. Dafür war es leider zu spät. Bums! 220,- Euro Strafe!
Wie oft ich es seitdem schon erlebt habe, dass diese vermaledeite Go-Box viermal piepste!
Und gerade mit diesem Bus war es erst zwei Jahre her gewesen! Was war bloß jetzt schon wieder?!?
Als Busfahrer möchte man ja seine Pausen-Einteilung auch ein bisschen nach den Bedürfnissen der Fahrgäste richten.
Immerhin: Die letzten paar Male war die Bearbeitung des entsprechenden Fehlers recht zügig (will heißen in unter zehn Minuten) von statten gegangen, aber ich stand auch schon mal länger als zwanzig Minuten wegen dieses Blödsinns. Und wenn dann die letzte Pause sowieso erst eine halbe Stunde her ist, sind die Fahrgäste begeistert, wie man sich vorstellen kann!
Nun gut, man hat ja fünf Stunden Zeit. Dachte ich zumindest bis dahin.
Und wir hatten sowieso noch keine Pause gemacht, also bot sich der nächste Autobahnrasthof an.
Salzburg-Nord, eine Viertelstunde „Mehrzweck-Pause“.
„Leider ist dies die einzige Raststätte in ganz Österreich, die nicht für die Go-Box autorisiert ist.“ So sagte es der Tankwart zwar nicht, aber so kam es mir vor. Jedenfalls konnte er mir nicht helfen. Toll.
Na gut, bis Wien sind es ja noch ein paar Stündchen, wir wollen ja auch mal Mittag machen – ich brauche von Gesetzes wegen irgendwann auch eine halbstündige Pause, das werden wir wohl innerhalb der fünf Stunden schaffen. Kein Stress. Und nicht in ein paar Kilometern gleich wieder eine Pause nur um den Go-Box-Fehler zu beheben.
Das ständige durchdringende viermalige Piepsen stört immerhin die Fahrgäste nicht sonderlich. Behaupten sie zumindest.
Kurz vorm Voralpenkreuz sehe ich im Rückspiegel ein Fahrzeug der ASFiNAG langsam näher kommen. Die haben sogar ein Blaulicht, um diese hochgradig kriminellen Verbrecher zu jagen, die versuchen, die Maut zu prellen. Es ist zwar nicht eingeschaltet, aber dennoch beschleicht mich eine leise Ahnung, dass die vielleicht nach mir suchen. So blicke ich sofort nach links, als sie neben mir sind. Und richtig: Sie deuten mir an, ihnen zu folgen.
Man muss nämlich wissen, dass an einigen dieser Maut-Brücken auch Video-Kameras installiert sind, um Maut-Preller zu entlarven. Big Brother is watching us.
Ich glaube immer noch, alles korrekt gemacht zu haben.
Die beiden Herren werfen mir freundlich, aber bestimmt an den Kopf, ich würde ihre Autobahn befahren, ohne dafür zu bezahlen.
Ich schildere ihnen unseren ersten vergeblichen Versuch, den Fehler zu beheben, lasse die Fahrgäste der ersten Reihe bezeugend mit dem Kopf nicken und verweise auf die fünf Stunden, die man doch Zeit habe.
„Ja, fünf Stunden“, bestätigen sie, „Aber nicht mehr als hundert Kilometer.“
Oh.
„Ach du Schreck! Das wusste ich nicht!“ entfährt es mir. Und: „Ich kann doch nicht alle paar Minuten Pause machen. Ich war der felsenfesten Überzeugung, ich könnte das in der Mittagspause erledigen, die wir sowieso noch vor Wien einlegen werden.“
Die Herren sind milde gestimmt. Sie verweisen mich auf die nächste Raststätte in ein paar Kilometern und wünschen mir Glück.
Wie meinen die das?
Der Tacho zeigt achtundneunzig Kilometer seit der Grenze. Bis zum Rastplatz sind es noch fünf Kilometer.
Zweihundertzwanzig Euro. Ich fange schon an, mich mit dieser Strafe abzufinden Und hadere mit den Umständen.
Wenn ich ein Spitzbube wäre. Wenn ich’s immer drauf anlegen würde. Wenn ich nicht ständig darauf bedacht wäre, alles korrekt zu machen. Es möglichst vielen recht zu machen.
Die Frau in der Tankstelle wird keine Wahl haben. Der Computer wird ihr anzeigen: 103km – 220,- Euro Strafe. Kein Ermessensspielraum. Bums.
Warum? Wir hätten doch sowieso keine Chance, die Maut zu prellen. Die haben die Daten meines Chefs. Der hat noch andere Busse dort registriert. Wir fahren ständig nach Österreich.
Warum können die nicht einfach davon ausgehen, dass wir bezahlen werden?
Es nervt.
Wir erreichen den Rasthof. Dann machen wir eben hier schon unsere 30 Minuten Mittag. Die Fahrgäste sehen’s wenigstens gelassen und drücken mir die Daumen.
Mit klopfendem Herzen gehe ich zur Tankstelle.
Die Dame nimmt die Go-Box entgegen und liest sie aus.
„Sie müssen 24,- Euro nachzahlen“, sagt sie. Sonst nichts. Nichts von „mehr als hundert Kilometer“ nichts von Strafe, nichts von 220,- Euro.
Sollte ich doch noch mal Glück gehabt haben? Ganz sicher bin ich mir da immer noch nicht. Was wenn die Strafe von zentraler Stelle eingefordert wird und sie demnächst per Post kommt? Wenn die Maschinerie des automatischen „Haftbefehl-Versands“ beim Befahren des hundertersten Kilometers schon angelaufen ist? Bei der kleinlichen Erfahrung meiner Kollegin halte ich dies durchaus für möglich. Aber doch für immer unwahrscheinlicher. Es geht mir besser.
Nur: Gegessen habe ich noch gar nichts. Fünfzehn Minuten habe ich noch, inklusive Klo-Gang. Danach soll ich wieder fit, ausgeruht und satt die restlichen drei Stunden bis Wien sicher absolvieren…
... link (0 Kommentare) ... comment
Mittwoch, 7. November 2012
Editorial
si.kei, 23:33h
Hier werden in unregelmäßigen Abständen meine Erlebnisse in mehr oder weniger origineller Form niedergeschrieben werden.
Falls es gefällt, sagt's ruhig, vielleicht gibt's dann öfter was.
Euer Carsten
alias Ten Cars
alias si.kei
alias Der Bus-Schofför
Falls es gefällt, sagt's ruhig, vielleicht gibt's dann öfter was.
Euer Carsten
alias Ten Cars
alias si.kei
alias Der Bus-Schofför
... link (0 Kommentare) ... comment